Initialkonflikt

Die neuapostolische Kirche ist eine christliche Glaubensgemeinschaft1 mit starkem Eingriff und –fluss auf die biopsychosoziale Entwicklung ihrer Glaubensmitglieder2. Ihren absoluten Autoritätsanspruch leitet sie vom Selbstverständnis ab, die einzig wahre Kirche Jesu Christi auf Erden zu sein. Dieses christlich fundamentalistische Dogma ist verknüpft mit dem apokalyptischen Konstrukt, in der Endzeit zu leben, d.h., dass sich die Offenbarung des Johannes3 – die Bluthochzeit und die Errettung der hundertundvierzungvierzigtausend Auserwählten – jeden Tag erfüllen kann. Wer zur gegebenen Stunde nicht im Gottesdienst ist bzw. nicht im Glauben lebt, riskiert in der Bluthochzeit und im ewigen Fegefeuer verloren zu gehen. Als vierzehnjähriger Konfirmand hatte ich in aller mir zur Verfügung stehenden Wahrhaftigkeit das Glaubensbekenntnis gesprochen: Ich entsage dem Teufel und all seinem Werk und Wesen und übergebe mich Dir, o dreieiniger Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, im Glauben gehorsam und ernstlichem Vorsatz, Dir treu zu sein bis an mein Ende – Amen.

Um diese Zeit erschütterte mich zwei Mal Todesangst4, die, soweit ich es erinnere, ausgelöst wurde, wenn ich mich auf „Ende“, den letzten Satz des Glaubensbekenntnisses, konzentrierte – „Dir treu zu sein bis an mein Ende“. Beide Male mündete dieser Zustand in eine überwältigende „ja“ und „danke“ sagende Einheitsempfindung. Diese innere Erschütterung verband ich mit dem apostolischen Versprechen, als versiegeltes, neuapostolisches Glaubenskind in Ewigkeit aufgehoben zu sein.

Die Angst verband ich mit einem dunklen Gefühl, das zunächst Unruhe und Herzklopfen auslöste und sich dann im Kopf in unausprechlicher Entgrenzung Bahn brach. Diese aufsteigende Wahrnehmung war von einem Empfinden beschattet, das ich eindeutig spürte, jedoch weder denken, geschweige denn in Worte ausdrücken konnte. Da war ein schemenhaftes Gefallenfinden an Klassenkameraden und Nachbarjungen, ein kindlich gleichgeschlechtliches Doktorspiel, was einer gehorsamen Entwicklung zum gläubigen, neuapostolischen Gemeindemitglied fundamental widersprach.

Das kindlich, pubertäre Doktorspiel wurde, spät, mit vierzehn, fünfzehn Jahren aufgegeben. Eine gesellschaftliche Situation mit mehr Demokratie wagen und einer sozialdemokratischen Bildungsoffensive in den 70’ern des vergangenen Jahrhunderts erweiterte den gesellschaftspolitischen Raum. Studien über den gewöhnlichen Homosexuellen5 erreichten über Funk und Fernsehen auch die westfälische Jugend. Mit siebzehn, achtzehn Jahren spitzte sich der innere Konflikt zu und motivierte mich – nach wiederholten melancholischen6 Nachmittagen im dörflichen Freibad, stiller Beobachtung eines Nachbarjungen im Apfelbaum, der sehnsüchtigen Erwartung an einer Bushaltestelle der nahegelegenen Kreisstadt einen braunäugigen Jungen aus dem Nachbardorf wiederzusehen – zum Tagebuchschreiben.